Ich bin der RockRentner im Harz
und berichte hier von meinen Wanderungen, Begegnungen und Erlebnissen (nicht nur) im Harz.
Stufenweise zum Gläsernen Mönch
04.06.2022
Es ist Samstag, Pfingstsamstag. In den nächsten zwei Pfingsttagen werde ich beim Rentnern Vollgas geben. Wann hat
man als Rock-Rentner schon mal zwei freie Tage am Stück! Vormittags noch schnell bei Edeka einkaufen: Steaks,
Gewürzgurken, Brötchen sowie diverse Rock-Rentner-Raritäten, die man halt so braucht. Nach dem Mittagsnickerchen
gibt es Kaffee auf dem Balkon mit dem Blick auf Gärten, Bäume und die Häuserfassaden dahinter. Eine innere Stimme
weist mich darauf hin, dass hinter den Fassaden der Blick hinüber zum Harz lockt. Die Stimme fragt: „Willst’e nicht
raus? Bewegung statt hier sitzen?“ Die fünfte Stunde nach dem Mittag hat bereits begonnen, als der Entschluss gefasst
ist: Raus!
Aus Vollgas beim Rentnern wird eine Vollbremsung. Zehn Minuten später rollt die Blechkarosse durch Langenstein, lässt
das Ortsschild hinter sich und findet einen geeigneten Abstellplatz am Feldrain mit Zugang zu einem Feldweg. Hier
startet die Mission Gläsernen Mönch, ein Vorhaben, das wir schon oft im Hinterkopf hatten, aber beim Rentnern (aus
Zeitmangel) stets unbeachtet blieb. Ein Rock-Rentner hat Sonnabend abends meist wichtigeres zu tun, doch Konzerte
sind immer noch Mangelware und so stehe ich jetzt am Feldweg und wage die ersten Schritte.
Die führen schnurstracks zwischen Feld und einem Wäldchen abwärts. Würde jetzt der Erlkönig aus dem Gebüsch
treten oder Rinderich von einem knorrigen Baum winken, es wäre völlig normal, würde zur Umgebung passen. Der
Hohlweg zieht sich mehrere hundert Meter in eine kleine Senke, um sich auf der anderen Seite wieder etwas
anzuheben. Vom Gebüsch, Sträuchern und Unkraut verdeckt, sind die Mauern einer Ruine zu sehen. An dieser Stelle
befand sich einst die Gaststätte „Altes Landhaus“, ein Ausflugsrestaurant, das schon vor vierhundert Jahren erwähnt
wurde. Ein preußischer Soldat hatte hier später einen Ausschank. Ab 1944 begann der dunkle Teil der Geschichte, als
die Nazis Häftlinge des nahe gelegenen Konzentrationslagers Zwieberge für ihre unmenschlichen Ziele schuften ließen,
viele tausende in den Tod trieben. Ein Schild am Wegesrand erinnert daran, gebietet den Gedanken für einen Moment
Einhalt, Besinnung.
Eine gute Bekannte in Halberstadt schrieb mir nach dem Lesen dieser Zeilen: „Dies war zu DDR-Zeiten ein sehr beliebtes Ausflugslokal.
Ich war regelmäßig mit meinen Eltern dort, um Fassbrause und Bockwurst zu genießen. Außerdem hatte das Landhaus einen großen
Saal, in dem zahlreiche Hochzeiten, Familien- und Betriebsfeiern stattfanden.“ (Danke Simone)
Bis zur Felsklippe aus Sandstein, Gläserner Mönch, früher auch Thorstein genannt, führen 169 Stufen, hatte ich
irgendwo gelesen. Die ersten auf Höhe der alten Ruinen nehme ich noch gelassen, doch als ich die eigentliche Treppe
sehe, die steil wie die „Stairway To Heaven“ nach oben führt, atme ich erst einmal tief durch. Von oben kommen zwei
ältere Damen, die lassen wir passieren, ehe auch ich meine Füße in Bewegung setze. Eigentlich wollte ich zählen, die
Anzahl überprüfen. Doch schon bald ist mir meine Sicherheit wichtiger, als das Zählen. Wahrscheinlich haben
diejenigen, die vor Jahren die Stufen erneuerten, großen Wert darauf gelegt, dass keine Stufe der anderen gleicht,
keine Holzbohle gleicht der nächsten und kein Abstand durfte dem anderen gleich sein. Zwar rücke ich Schritt für Schritt
dem Ziel auf 180 Meter langsam näher, aber es strengt mich an, wäre da nicht ein Geländer für den Halt. Ein gestählter
Rock-Rentner überwindet auch knapp zweihundert Holzstufen relativ locker, wenn auch schnaufend. Ganz ehrlich, der
Aufstieg zum Agnesberg war heftiger, weil ohne Halt. Da hatte ich noch einmal eine künstliche Hüfte …
Wetten, dass ich in weniger als fünf Minuten oben ankam? Der erste Blick fällt auf eine Bank, danach auf den dunklen
Sandsteinbrocken, der linkerhand in den blauen Himmel ragt. Geradeaus steht neben der Bank ein roter Stempelkasten
für den Sonderstempel „Im Zeichen der Hexen“. Diese roten und die grünen Kästen überall im Harz locken manchmal
an verborgene Orte, die man ansonsten kaum sehen würde. Den Gläsernen Mönch hätte ich auch ohne zusätzlichen
Antrieb besuchen wollen, Stempel zu sammeln ist aber ein schöner zusätzlicher Antrieb.
Wenig später stehe ich endlich auf der Spitze des Steins und weitere Stufen sind geschafft. Es mögen jetzt rund
zweihundert sein, die bis zur Mini-Plattform mit Geländer führen. Es ist ein überwältigendes Gefühl, von hier aus
ringsum in die Landschaft zu schauen. Kein Wunder, dass schon die Germanen vor viertausend Jahren diesen
Sandsteinbrocken als Kultstätte nutzten und einer Gottheit, vermutlich Thor, ihre Verehrung darboten. Zudem offenbart
eine Sage, dass an diesem Stein ein Mönch und eine Nonne ihr Keuschheitsgelübde brachen und zur Strafe in Stein
verwandelt wurden. Beim Betrachten kann man mit etwas Fantasie eine Gestalt in Mönchskutte erkennen. Ich hingegen
staune schlicht und ergreifend in die Landschaft hinein. Gegenüber liegt der Hoppelberg, dort waren wir auch noch
nicht, weiter rechts Langenstein und dahinter die Skyline vom Harz mit dem Brocken obendrauf. Noch etwas weiter
ziehen sich Felder in der Ebene bis hinüber zum Huy und ganz rechts, hinter den Baumwipfeln, ragen die Türme von
Halberstadt heraus. Unter meinen Füßen aber bricht der Stein steil in die Tiefe hinab. Baumkronen von oben sehen
auch irgendwie toll aus. Dass man viel früher hier oben Magie zu verspüren glaubte, kann ich jetzt ganz gut
nachvollziehen. Von diesem Gipfel müsste man einmal den Sonnenuntergang betrachten, denke ich und, dass es uns in
eine wirklich faszinierende Gegend mit zauberhafter Landschaft verschlagen hat.
Die Stufen vom Mönch hinunter nehme ich rückwärts. Die Hüfte kann steil vorwärts (noch) nicht gut, muss sie auch
nicht. Auf der Bank sitzend, genieße ich noch einige Augenblicke diesen herrlichen Blick auf Felsen und Landschaft. Kein
Mensch in der Nähe, abendliche Stille und langsam sinkt die Sonne. Der Abstieg über die Stolpertreppe gelingt
fehlerfrei, der Blick, diesen „Stairway To Heaven“ hinauf, genieße ich auch noch einmal und Minuten später laufen wir
schon wieder durch den Hohlweg zurück. Die Landschaft ist jetzt in abendlich warmes Licht getaucht und auf den
blühenden Feldern spielen die Farben miteinander. Erlkönig und Rinderich winken uns noch einmal zu, ehe die
Blechkarosse wieder nach Langenstein rollt. Es ist zwei Stunden später und kurz vor der Tagesschau, als wir auf den
Hof rollen. Statt Tagesschau gibt es eine erfrischende Dusche. Mit einem Gläschen verabschieden wir den
Pfingstsonnabend. Noch zwei Tage Vollbremsung mit Rentnerruhe, dann beginnt wieder gnadenlose Hektik in einer
Rock-Rentner-Woche.